Tanz und WahnSinn / Dance and ChoreoMania

 

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Einleitungen/Introductions

Josephine Fenger
Chorea – Krise und Katharsis

[german][english]

Choreia – Tanz und Wahnsinn


Die enge Verbindung von Tanz und Wahnsinn tritt seit der Antike in vielen Kulturen immer wieder in unterschiedlichsten Facetten auf. So war zwischen dem Tanz der antiken Mänaden und Bacchantinnen als Ausdruck ihres mentalen Ausnahmezustandes während des Praktizierens des spirituellen Ritus und der Besessenheit selbst nicht wirklich zu trennen! Andere Beispiele sind die in zahlreichen Kulturen und Religionen auftretenden, intentional herbeigeführten, rituellen hypnotischen Wahnzustände durch Tanz und Rhythmus.
Wahnsinn ist hier verstanden als geistiger Ausnahmezustand, der durch Krankheit, emotionale Kondition oder den situativen Kontext verursacht wird – von einer Massendepression, wie sie als Reaktion auf die Epidemien des Mittelalters als Ursache der „Tanzwut“-Epidemien des Mittelalters diskutiert wird, oder dem Dionysos-Ritus, der im Karneval weiter lebt. Ein mentales Entgleisen äußert sich oftmals in rhythmisierter Bewegung, wird durch Tanz symbolisiert, oder umgekehrt durch Tanz therapiert. Ob es sich um den mittelalterlichen Veitstanz, den seit dem 15. Jahrhundert in Süditalien praktizierten Tarantismo oder die sprichwörtlichen Roten Schuhe, das Märchen vom Tanzen-Wollen, dass durch ein Tanzen-Müssen gebüßt wird handelt, Tanz ist immer zugleich Symptom und Therapie, Krankheit und Kur. Choreia (auch: chorea) heißt nicht nur Tanz, sondern ist auch der Name einer Krankheit, die sich in Bewegung äußert.


Der Analogiezauber von Tanz als Krise und Kur zugleich zieht sich als roter Faden durch die Geschichte der Interdependenz von Tanz und Wahnsinn. In der antiken Metaphysik, die Isadora Duncan in ihrer Tanzphilosophie wiederbeleben wollte, verinnerlichte der tanzende Mensch das Universum – auch dessen Ausnahmezustände. Der Dionysos Kult war ein Medium, um im Tanz und den durch ihn erzeugten Wahn „Sinn“ zu finden. So beinhaltete das antike Ritual zwei zentrale Aspekte, die Tanz und Wahnsinn vereinen: Die Inszenierung der Ekstase, des Ausnahmezustandes als Tanz, als dessen „natürliche“ Ausdrucksform mit dem Ziel der Katharsis.
wiederbelebt – ausgerechnet im Medium, das, historisch gesehen sehr kurz zuvor, im Barock als Ausdruck der Repräsentation der Weltordnung, als Versinnbildlichung politischer und sozialer Macht institutionalisiert worden war. Nun mutierte der „dressierte Leib“ in vollendeter körperlicher Disziplin, das Ballett, zum ästhetischen Medium der Kehrseite der Medaille: des geistigen Ausnahmezustandes, auch des Metaphysischen, so dass die Inszenierung wahnhafter Zustände die sich zeitlich unmittelbar anschließende Hysterieforschung mit ihrer analytischen “Vorführung” von pathologisch und neurologisch verursachten Bewegungsmustern vorwegnimmt.
So zeigt sich die Dialektik zwischen Ekstase und Disziplin eben so wie die Interdependenz von Krankheit und Kur als charakteristisch für die Verbindung von Tanz und Wahnsinn.


Die Forschung über den Zustand, in dem Bewegung Ausdruck innerer Vorgänge ist, reicht vom Exorzismus seiner Zeit zu den zeitgenössischen Neurowissenschaften. Gleichermaßen wird über die „Ansteckungsgefahr“ der Tanzwut seit dem Mittelalter spekuliert, wobei motorische Nachahmungstriebe oder auch Spiegelneuronen die „Besessenheit“ als Erklärung dafür abgelöst haben, warum uns das Betrachten von Tanz zum Mittanzen inspiriert.

 

Chorea – crisis and cure


For millennia, dance has frequently presented itself as a medium and as embodyment of madness, one of history’s most interesting causes to provoke and inspire dance. The history of this interrelationship stretches from the ancient Dionysian rites to the medieval collective eruptions of choreomania, from Mad Scenes in the romantic ballet to staged performances of hysterics in the 19th century and to contemporary flashmobs and techno raves.


Dance as a display of an individual or collective state of emergency is likewise this emergency’s expression and its cure. Movement aspects caused by “mad“, mental or pathological states, have often inspired artistic dance to choreographic reflections or been the subject of choreographic analysis.


Tanz und WahnSinn/Dance and ChoreoMania addresses issues of cultural and medicinal history, artistic, philosophical, and therapeutic aspects of the ancient relationship of dance and madness. It puts an emphasis on perceptions of madness and choreomaniac facts (including both, the mentally moved and the mentally moving) in contemporary dance and theatre performance.
Issues of “mad“ dancing, such as the antique maenad’s ritual dances, medieval choreomaniac events or 19th and 20th century research on hysteria and neurology are among the most fascinating and enigmatic inspirations for social and artistic dance, dance therapy and –research. The multiple faces of the interrelation of dance and madness mirror their time’s respective understanding of both.
At all times, the movement spectacles offered by victims of real or faked madness has provided great shows (as noted f. i. in 1509 by Erasmus of Rotterdam or the German physician C. G. Carus in 1852 and of course analyzed and staged by the French neurologist J.-M. Charcot during the 2nd half of the 19th century) and were, in many cases, highly “contagious“ so choreomaniacs and their audience often were doomed to merge. Moreover, the danced embodiment of madness often created an anarchic aspect: of the mad individual in her/his counter-consciousness and even of – though temporary – dancing communities as alternative societies.
Some moments of this complex history of choreomaniac issues are highlighted within our book. The volume’s issues are structured in 5 parts which reflect on: Enthusiasm and ecstasy: historical, critical and theoretical perceptions on the history of mania in dance; choreomania and dance therapy; schizoanalysis and erotomania; performance and choreomania, and social and political pathology.

 

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Herausgeberin und Herausgeber / editors
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(c) 2011 Johannes Birringer & Josephine Fenger, editors

Leipzig: Henschel Verlag, 2011.paperback,€ 24.90, ISBN-10: 3894877103

This book project is supported by

Gesellschaft für Tanzforschung (GTF)

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