Tanz und WahnSinn / Dance and ChoreoMania

 

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II. Tanzwahn und Therapie // Choreomania and Dance Therapy


Anja Weber
Tanz als Therapie und Therapie für Tänzer: Impulse aus Neurowissenschaft und Psychotherapieforschung

[german]

Anja Weber


Tanz als Therapie und Therapie für Tänzer: Impulse aus Neurowissenschaft und Psychotherapieforschung


Die Praxis der Psychotherapie psychischer und psychosomatischer Erkrankungen hat sich in den letzten Jahren als „3. Generation“ der Verhaltenstherapie von den rein kognitiv (verstehenden) und übenden Ansätzen hin zu Techniken der Achtsamkeit und Akzeptanz entwickelt. Körperliche Empfindungen, Gefühle, Gedanken und Verhalten werden gleichermaßen wahrgenommen und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die achtsame Wahrnehmung und Akzeptanz der eigenen Person in psychischer und körperlicher Hinsicht und das Erlangen eines größeren Wissens über das eigene Erleben und Verhalten ist zentraler Teil des psychotherapeutischen Prozesses geworden. Darüber hinaus wird auch die therapeutische Intervention über alle vier Zugänge (Körper, Gedanken, Gefühle und Verhalten) möglich. Hierbei werden auch geeignete Körper- bzw. Bewegungsaufgaben mit den Patienten entwickelt und als Routine wie in Krisensituationen angewendet. Die „Skills“ (Fertigkeiten) der „Dialektisch-Behavioralen Therapie“ (DBT) nach Marsha Linehan bilden ein individuell zusammengestelltes Set von Übungen, die als Fertigkeiten zur Selbstberuhigung oder Emotionsregulation dienen können. Hierzu können aus dem Tanzunterricht bekannte Wahrnehmungs- oder Bewegungsaufgaben sowie die Vorstellungsbilder oder Denkoperationen („Hirn-Flick-Flack“) zählen.

Ziel des Skills-Training der DBT ist neben der Anwendung von Achtsamkeit als meditativer Technik eine gezielte Stress- und Emotionsregulation sowie das Erlernen sozialer Kompetenzen. Es wird einerseits psychoedukativ (i. e. das Wissen und Verständnis des Patienten erweiternd) vorgegangen, andererseits übend (das Verhalten verändernd). Eine zentrale Stellung nimmt in der DBT das regelmäßige Abschätzen der psychischen Anspannung über die sog. „Spannungskurve“ ein. Sie kann zur Einschätzung der momentanen Befindlichkeit noch vor der Differenzierung einzelner Gefühlen oder kognitiver Prozesse eingesetzt werden. Die „Spannung“ im Sinne einer körperlichen und emotionalen Erregung im mittleren Bereich zu halten, ist Voraussetzung für eine kognitive Arbeit oder Verhaltenskontrolle, dies zeigte die Grundlagenforschung im Bereich von Trauma, Aufmerksamkeit und Gedächtniskonsolidierung. Zunächst für chronisch suizidale Patienten entwickelt und für Menschen mit Sucht oder Borderline-Persönlichkeitsstörung in Studien evaluiert wird die DBT mittlerweile auf weitere Krankheitsbilder und Patientengruppen jeden Alters (z. B. Essstörungen, Depressionen etc. - auch bei Kindern und Jugendlichen) angewendet. Zahlreiche Stuiden laufen. Ein Einsatz in der Prävention (z. B. an Schulen) ist geplant. Der Zugang über den Körper zur Spannungs- und Emotionsregulation kann durch tänzerische Basisübungen gelingen. Z.B. können kleine Bewegungskombinationen oder Balance-Übungen Aufmerksamkeit beanspruchen und somit innere Distanz schaffen. Anstrengende Bewegungen (z. B. Relevé-Wiederholungen) können unmittelbar Spannung abführen. Körperwahrnehmungsaufgaben wirken als Achtsamkeitsübung beruhigend usw. Integrative Konzepte wie die DBT von Linehan bieten die Chance tanzpraktisches und tanztherapeutisches Wissen integrativ in den psychotherapeutischen Prozess einbeziehen und die Verbindung zur somatischen Medizin mittels zugrunde liegender psychoneuroendokrinologischer Modelle zu schaffen. Weitere tanztherapeutische Methoden, die über Symbolisierung oder spielerisch-kreativen Umgang mit Problemen wirken, können ebenfalls dazu beitragen, ungünstige automatisierte Verhaltensweisen langfristig zu verändern. Sie können durchaus an ein solches Therapiemodell angebunden werden. Tänzerische Praxis kann in diesem Sinne zur psychischen Regulation oder differenzierteren Selbstwahrnehmung genutzt werden. Die Wirkmechanismen derartiger Körper- und Bewegungsfertigkeiten können neurobiologisch begründet und Patienten wie Therapeuten oder im präventiven Bereich Arbeitenden modellhaft versteh- und erfahrbar werden. Die Lücke zwischen Körper und Geist, Gefühlen und motorischer Bewegung, Tanz-/Bewegung- und Psychotherapie sowie somatischer Medizin wurde durch neurobiologischen Erkenntnisse dialektisch verbunden.

 

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Herausgeberin und Herausgeber / editors
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Bildnachweis / list of illustrations

 

(c) 2011 Johannes Birringer & Josephine Fenger, editors

Leipzig: Henschel Verlag, 2011.paperback,€ 19.90, ISBN-10: 3894877103

This book project is supported by

Gesellschaft für Tanzforschung (GTF)

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